Kolumne

Zankapfel Zuwanderung

von Patrick Dümmler | September 2020
Die zahlenmässige Zuwanderung nur aufgrund der Personenfreizügigkeit (PFZ) ist vor allem konjunkturell getrieben. Aufgrund der demografischen Entwicklung benötigt die Schweiz erst recht Zuwanderung, um die Austritte der einheimischen Bevölkerung aus dem Arbeitsmarkt zu kompensieren.

Laut dem Initiativkomitee der Begrenzungsinitiative (BGI), das gegen die Personenfreizügigkeit (PFZ) ist, wird die Schweiz von EU- und Efta-Ausländern überrannt. Insgesamt sei eine Million Personen in die Schweiz immigriert. Festzuhalten ist folgendes: Seit 2002 (bis 2018) – die PFZ wurde ab 2002 schrittweise eingeführt – wanderten 1'542'593 Personen aus dem EU/Efta-Raum in die Schweiz ein, 802'415 wanderten wieder aus, der Wanderungssaldo beträgt somit 740'178 Personen. Im Durchschnitt ergibt dies eine Nettozuwanderung von jährlich 43'539 Personen in die Schweiz (BFS 2019).

Die Zahl der tatsächlich als (direkte) Folge des Freizügigkeitsabkommens Eingewanderten dürfte aber deutlich tiefer liegen, da es bereits vor der PFZ Einwanderung aus dem EU/Efta-Raum gab. So schätzten Bolli, Schläpfer und Siegenthaler (2015) für die Periode 2002–2012 den PFZ-Effekt auf die Nettozuwanderung im Bereich von 10'000 bis 15'000 Personen pro Jahr, was also bloss etwa einem Viertel der tatsächlichen Nettozuwanderung entspricht. Eine weitere Studie (Sheldon 2015) kommt zum Schluss, dass nicht so sehr die Zuwanderung angestiegen ist, sondern die Rückwanderung abgenommen habe – was in der Nettobetrachtung des Wanderungssaldos naturgemäss nicht ersichtlich ist. In der Periode 1991–2001 kehrten tatsächlich im Verhältnis zu den Zugewanderten 97 % EU/Efta-Staatsangehörige wieder zurück. In der Periode 2002–2018 waren es noch 52 % (BFS 2019). Die einmal Zugewanderten verblieben somit länger in der Schweiz als vor Einführung der PFZ.

Konjunkturelle Abhängigkeit der PFZ-Zuwanderung
Die PFZ-Zuwanderung wird von der Schweizer Nachfrage nach Arbeitskräften angetrieben. So wird höheres wirtschaftliches Wachstum in der Schweiz – im Vergleich zu den umliegenden Ländern – von steigenden Wanderungsüberschüssen begleitet, während konjunkturelle Einbrüche Rückgänge bei der Nettozuwanderung zur Folge haben. Statistisch besteht eine positive Korrelation zwischen dem höheren wirtschaftlichen Wachstum in der Schweiz im Vergleich zu den EU-Ländern und dem Wanderungssaldo ein Jahr später (Grünenfelder und Dümmler 2020).

Die Einwanderung auf Grundlage der PFZ hatte aufgrund der konjunkturellen Abhängigkeit keine Rückwirkungen auf die Beschäftigungschancen der Einheimischen. So stieg zwischen 2010 und 2019 die Erwerbsbeteiligung der Schweizer an: von 82,1 % auf 84,6 %. Bei den zugewanderten Personen aus dem EU/Efta-Raum ist seit dem Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens der Anteil sogar noch stärker, nämlich von 82,1 % (2010) auf 87,7 % (2019) gewachsen (Seco 2018 und 2020).

Ein Blick in die Zukunft – die Schweiz braucht Arbeitsimmigration
Der Schweizer Arbeitsmarkt ändert sich aufgrund der demografischen Entwicklung nachhaltig. Bereits 2021 werden mehr Erwerbspersonen den Ruhestand erreichen, als junge Erwachsene in den Arbeitsmarkt eintreten. In den folgenden Jahren wird die Diskrepanz weiter zunehmen (Credit Suisse 2019). Selbst wenn die Schweiz das Potenzial an Arbeitskräften – insbesondere bei den Frauen – noch besser ausschöpft und die Arbeitnehmenden über das Pensionsalter hinaus beschäftigt: Demografisch bleibt die Schweiz auf Einwanderung angewiesen (Grünenfelder et al. 2018). Ohne Immigration verschärft die demografische Entwicklung den bereits heute vielfach beklagten Fachkräftemangel in der Schweiz.

Anders ist die Ausgangslage bei der ausländischen Bevölkerung: Die Zuwanderung ist vor allem getrieben von der konjunkturellen Schweizer Nachfrage nach Arbeitskräften, was sich auch in der Altersstruktur der Immigration widerspiegelt. Die im Durchschnitt jüngere Altersstruktur der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz ergibt sich aus dem Wanderungssaldo. Analysiert nach Alter erreicht die Nettozuwanderung (2018) einen ersten Peak kurz vor 20 Altersjahren, 50 % aller Zuwanderer sind in der Altersspanne 23 bis 34 Jahre zu finden. Ab 55 Jahren wandern mehr Ausländer aus als neue ein. In Zukunft wird die Zuwanderung von Personen im erwerbsfähigen Alter für die Schweiz noch bedeutender werden, um die wachsende Diskrepanz zwischen Aus- und Eintritten der einheimischen Bevölkerung in den Arbeitsmarkt – zumindest teilweise – zu kompensieren.

Liberale Lösung oder mehr Bürokratie?
Das heutige System der PFZ ist eine unbürokratische, liberale Lösung. Ausschlaggebend ist die Nachfrage von Unternehmen in der Schweiz nach Arbeitskräften. Gemäss Vorstellungen der BGI-Initianten soll die PFZ durch ein bürokratisches System abgelöst werden. So müssten bei einer Kontingentslösung administrative Höchstzahlen und Zugangskriterien festgesetzt werden. Das System wäre ausserdem nicht immun gegenüber politischen Druckversuchen einzelner Branchen, die Sonderkonditionen beanspruchen wollen. In der bevorstehenden Abstimmung geht es somit nicht nur um unser zukünftiges Verhältnis zur EU, sondern auch um die Frage, ob eine liberale Lösung durch bürokratische Bedingungen ersetzt werden soll.