Krieg in Europa: "Wir sind zu wenig betroffen, es geht uns zu gut"

von Johann Aeschlimann | August 2023
Am 24. August sind anderthalb Jahre seit dem russischen Überfall auf die Ukraine vergangen. Seither tobt auf dem europäischen Kontinent  ein «konventioneller» zwischenstaatlicher Krieg – der erste seit dem Zweiten Weltkrieg. Einer, der die Vorgeschichte gut kennt, ist Toni Frisch, der ehemalige Delegierte für Humanitäre Hilfe im Aussenministerium (EDA). Von Mai 2015 bis Juni 2021 leitete er als Koordinator die OSZE-Arbeitsgruppe für Humanitäre Belange im Ukraine-Konflikt. Die OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) war im Rahmen der Abkommen von Minsk für die Überwachung der mit Russland, der Ukraine und den ukrainischen Rebellengruppen getroffenen Abmachungen über einen Waffenstillstand und einen Sonderstatus der ukrainischen Gebiete um Donetsk und Lugansk zuständig.(sga-aspe)

Wie lange rechneten Sie mit dem Einsatz in der Ukraine, als Sie im Mai 2015 Ihr Amt antraten?

Ich wurde nach dem Abschluss von Minsk II von der damaligen OSZE-Sonderbeauftragten Heidi Tagliavini angefragt und von der Schweiz vorgeschlagen. Man sagte mir, das sei eine kurze Sache, ab Weihnachten würden keine OSZE-Koordinatoren mehr gebraucht. Ich glaubte es nicht. Man sagte mir, das Abkommen liege ja vor. Aber Abkommen müssen auch umgesetzt werden.

Was war Ihre Aufgabe?

Hauptsächlich der Gefangenenaustausch zwischen den von Russland unterstützten Separatisten und den Ukrainern. Wir konnten über 600 «Gefangene des Konfliktes» austauschen. Meine Aufgabe war locker definiert. Vereinfacht gesagt, gab ich mir mein Pflichtenheft selber. Ich erreichte zum Beispiel, dass weitere 600 Strafgefangene aus den Rebellengebieten in die Westukraine überführt wurden, um ihre Strafe dort abzubüssen. Ihre Familien waren geflohen, womit die familiäre Unterstützung – Kleider, Essen – wegfiel. Oder ich ging mit UNICEF einer russischen Behauptung nach, die Ukraine habe 1000 Kinder entführt.

Was kam dabei heraus?

In den etwa anderthalbjährigen Nachforschungen konnten wir belegen, dass es sich bei den Kindern zwischen 2 und 16 Jahren um BewohnerInnen von Heimen gehandelt hatte. Viele davon Halb- und Vollweisen oder Kinder aus zerrütteten Familien stammend. Die älteren waren in der Ukraine wieder in Heimen aufgenommen worden, viele jedoch wurden von Familien adoptiert, teils sogar im Ausland. Damit hörten die Unterstellungen auf.

Hatten Sie neben dem Gefangenenaustausch weitere Aufgaben?

Es gab eine Reihe weiterer Aufgaben, wie Vermittlung des Zugangs zu den bedürftigen Menschen in der Konfliktzone für UNO, IKRK und andere Hilfsorganisationen, Verbesserung der Haftbedingungen sowie der Verhältnisse an den Übergängen in den Donbasss und nicht zuletzt Kampf gegen die Folterung der Gefangenen.

Wie nahe waren Sie vor Ort?

Ich war ja in der Schweiz stationiert. Während meines Mandats bin ich jedoch praktisch alle zwei Wochen in Minsk mit den Russen, den Ukrainern und den Rebellenvetreterinnen aus dem Donbass zusammengekommen. Zumeist besuchte ich gleichzeitig auch Kiew. Zweimal pro Jahr war ich im Donbass, um Gefängnisse zu besuchen und um die Kontakte mit den Chefs der selbsternannten «Republiken» Donetsk und Lugansk zu verbessern. Ich bemühte mich stets, absolut neutral aufzutreten und erwarb dadurch das Vertrauen aller Parteien. Ab September 2016 konnte ich Gefängnisse auch im Donbass besuchen – etwas, was dem IKRK versagt blieb.

Haben Sie Unterschiede zwischen Donbass und Ukraine in der Behandlung der Gefangenen festgestellt?

Es gab nicht Schwarz und Weiss, sondern Hellgrau und Dunkelgrau. Tendenziell waren die Gefangenen im Donbass schlechter gehalten. Die Behandlung war martialischer. Ich stellte fest, dass Gefangene jahrelang ohne Anklage oder Einvernahme festgehalten wurden, oder medizinische Unterstützung versagt wurde oder ihre Angehörigen nichts über ihren Verbleib wussten

Wie wurde entschieden, welche Gefangenen ausgetauscht werden sollen?

In der Arbeitsgruppe in Minsk. Das war die «TKG, Trilarerale Kontaktgruppe»: Ukraine, Russland und OSZE, dazu die Separatisten, die teilnehmen durften, nachdem die Russen mit Boykott gedroht hatten. Jede Partei hatte je zwei Vertreter, dazu brachten jeweils alle ihre Berater mit.

Der Oligarch war der flexibelste

Wie verliefen diese Verhandlungen?

Mühsam. Ich hatte nie den Eindruck, dass man gemeinsam nach Lösungen trachtete. Die Russen sagten nahezu nichts. Sie stellten sich auf den Standpunkt, nicht Konfliktpartei, sondern bloss Vermittler zu sein. Die Vertreterinnen der Rebellen in Donetsk und Lugansk waren ausgezeichnet vorbereitet und mit den Russen abgestimmt. Die reisten via Moskau an, und in den Kaffeepausen sassen sie mit den Russen zusammen. Die eine Vertreterin der Ukraine, stellvertretende Parlamentspräsidentin , stach durch besondere Aggressivität hervor. Sie weigerte sich sehr lange, mit den Donbass-Vertreterinnen zu reden. Das seien Terroristen und Separatisten und nur als Gäste am Tisch. Am besten arbeitete ich mit dem anderen ukrainischen Vertreter, dem Oligarchen Wiktor Medwedtschuk, zusammen. Er war der flexibelste und unglaublich vernetzt. Seine Tochter ist das Patenkind von Putin. Zweimal, als wir wieder einmal eine Liste von Gefangenen für den Austausch beieinanderhatten, nahm er mich beiseite und sagte, er fliege am Wochenende nach Sotschi, wo er «den Mann mit den 5 Buchstaben im Namen» treffe. Der sage ihm, ob die Liste ok sei. So war es.

Putin hat Ihre Gefangenenlisten abgesegnet?

Ja, und auf der ukrainischen Seite Präsident Poroschenko. Das ging bis zuoberst.

Die Russen sagen, im Donbass sei die russische Minderheit jahrelang diskriminiert, terrorisiert und verfolgt worden. Was ist Ihr Eindruck?

Putin sprach sogar von «Genozid». Das ist Unsinn, eine Lüge. Putin brauchte eine Begründung für den Angriffskrieg. Wenn jemand terrorisiert wurde, dann die lokalen «nicht Gleichgesinnten» durch die Separatisten.  Ich habe in Minsk jahrelang die Vertreter der Russen und der separatistischen Republiken getroffen, war ja auch mehrmals dort, das Wort «Genozid» ist nie gefallen.

Wurden die Russischsprachigen diskriminiert?..

Das würde ich so nicht sagen. Die deutliche Mehrheit hatte ursprünglich russische Wurzeln und sprach nur russisch. Deshalb flohen 2014 Hundertausende auch nach Russland. Es gab viele Russischsprachige, die sahen sich als hundertprozentige Ukrainer, das ging gut.  Poroschenko hat aber diese Sprachengesetze gegen das Russische erlassen, während man gleichzeitig den Donbasss von den Separatisten zurückgewinnen wollte.  Einen solchen Schritt muss man wohl als politische Dummheit bezeichnen. Das wäre dasselbe, wie wenn wir den Tessinern sagen würden, ab morgen wird «Züridütsch» geredet. Aber diskriminiert? Ich würde sagen, vernachlässigt. Ich habe Studenten, Flüchtlingen, Militärs und Zivilisten aller Art gefragt, was ihre Zukunftsperspektive sei. Tendenziell sagten sie mir: Es ist uns egal, unter wem wir existieren. Weder Kiew noch Moskau haben ein Interesse an uns. Aus Kiew kommt nie ein Politiker in den Donbass. Die Menschen im Donbass fühlten sich vernachlässigt. Es ist ein Randgebiet, und Randgebiete werden vernachlässigt, auch andere.

OSZE-Sonderbeauftragter: «Die Situation ist viel zu komplex, um eine Strategie zu erarbeiten»

Ist die OSZE ihrer Aufgabe gerecht geworden?

Es gab sicher Fehler und dazu viele Unzulänglichkeiten. Die OSZE ist nicht so aufgebaut, dass sie Krisen bewältigen könnte. Entscheidend aber waren letztlich auch die Verantwortlichen.

Es gab neben Ihrer Arbeitsgruppe für Humanitäre Belange weitere Arbeitsgruppen. Wurde koordiniert?

Nein, nicht genügend. Das hat mich befremdet. Ich habe mich bemüht, Verbindungen herzustellen, habe Sitzungen mit den anderen Arbeitsgruppen gemacht, war in Brüssel, Wien, Moskau, Paris und Berlin. Der Franzose, der die politische Arbeitsgruppe leitete, war nicht ein einziges Mal im Donbass, die andern kaum. Für mich war das schockierend. Als ich mich dafür einsetzte, eine Strategie und eine «Roadmap» mit Zielen und Fristen und ihre periodische Überprüfung zu erstellen, erklärte der österreichische OSZE-Sonderbeauftragte: «Die Situation ist viel zu komplex, um eine Strategie zu erarbeiten».

Sie waren in Brüssel. Welche Rolle hat die EU gespielt?

Ja, ich wollte dort die OSZE-Teilnehmerstaaten informieren und ihnen die Realität näherbringen. Formell hatte die EU keine Rolle. Sie war in den Koordinationsgremien via Frankreich und Deutschland, als Teil der Normandie Vier, indirekt vertreten.

Schon. Aber man hatte seit der Annexion der Krim 2014 einen Bruch des Völkerrechts und mit dem Separatismus im Donbass einen Quasi-Krieg in Europa. Und in Ihrem Bereich war die EU trotz «gemeinsamer Aussen- und Sicherheitspolitik» unsichtbar?

Ich war der einzige in der OSZE-Koordinationsstruktur, der mit den europäischen Partnern so systematisch sprach. Auf der Schweizer Botschaft in Kiew haben wir zweimal pro Jahr die wichtigsten Exponenten zusammengenommen, um Klartext zu reden. In Wien konnte ich auf meine Initiative hin einmal im Jahr mit den Vertretern aller 57 OSZE-Staaten zusammentreffen. Der österreichische OSZE-Sonderbeauftragte hat von sich aus kaum dergleichen unternommen.

Wieviel machte die OSZE-Präsidentschaft aus?

Das war sehr unterschiedlich. Die Schweizer Präsidentschaft 2014 unter Bundespräsident Burkhalter wird überall als hervorragend betrachtet. Der Vorsitz hätte ab 2015 viel Spielraum gehabt, aber er wurde nicht genutzt, weil die Vorsitzländer zu wenig engagiert oder zu Ukraine-hörig waren. Die Ausnahme ist Deutschland 2016. Aussenminister Steinmeier war ein starker Leader. Die Deutschen haben sich im Jahr vor ihrem Amtsantritt präzise vorbereitet. Ich wurde zweimal zu Sitzungen mit den Aussenministern nach Berlin eingeladen, und wenn Frau Merkel mit Putin sprach, wurde ich gebeten, meine Anliegen mitzuteilen.

Die Schweiz tut zu wenig

Wieviel Unterstützung haben Sie von der Schweiz, vom EDA, erhalten?

Ich war wie gesagt sehr frei und selbständig. Habe nach jeder Sitzung in Minsk einen Bericht nach Bern verfasst. Es gab sonst kaum Kontakte, abgesehen von ein paar bilateralen Gesprächen. Das mag auch damit zusammenhängen, dass das Staatsekretariat damals andere Prioritäten hatte und eher nach «low-hanging fruit» Ausschau hielt. Mit den Schweizer Botschaften in Kiew, Minsk, Berlin, Paris, Wien, Moskau und Brüssel war die Unterstützung und Zusammenarbeit stets gut. Das gilt auch für die Zusammenarbeit mit OSZE-Generalsekretär Thomas Greminger.

Was kann die Schweiz tun?

Es müsste meines Erachtens viel mehr sein als jetzt. Ich habe, nach Beginn des Krieges, zusammen mit einer kleinen Gruppe Ehemaliger, verschiedene Vorschläge gemacht, wie sich die Schweiz einbringen könnte.

War die Lugano-Wiederaufbaukonferenz im Juli 2022 eine « low-hanging fruit»?

Eigentlich nein, es war ein wunderbarer Zufall, dass man vor dem Kriegsausbruch diese Konferenz vereinbart hatte, um Reformprozesse in der Ukraine anzustossen.  Aber man hätte mehr daraus machen können. Es gab kaum eine systematische Nachbearbeitung. Man hat es versäumt, eine nachhaltige Folge zu organisieren, beispielsweise schon in Lugano eine Nachfolge-Konferenz über Entminung anzusetzen.

Die Schweiz liefert keine Waffen oder Munition. An der UNO in New York wird erklärt, man leiste dafür in den anderen Bereichen umso mehr. Richtig?

Das ist leider falsch. Wir sind auch in den nichtmilitärischen Bereichen im Hintertreffen. Bei unserer vielgerühmten humanitären Tradition müssten wir in diesem Bereich weit voraus sein.

Wieso ist das so? Nur individuelles Versagen in der Regierung oder auch ein Hemmnis in der politischen Kultur, à la «es ist Krieg in Europa, aber Europa ist für uns Ausland, und da mischen wir uns nicht ein»? .

Wir sind zu wenig betroffen, es geht uns zu gut. Die Neutralität dient vielen als Feigenblatt. Wir müssten wohl nicht nur 80 000, sondern mindestens 200 000 ukrainische Flüchtlinge haben, um uns zu bewegen. Der Schweizer schwimmt meist erst, wenn ihm das Wasser am Mund steht. Wir haben die beste Art, ein Land zu regieren, aber in Krisensituationen wo sehr rasch wichtige Entscheide zu treffen sind, versagt unser Regierungssystem oft. Hinzu kommt eine für viele zu wenig sicht- und spürbare Departementsführung. Nicht einmal der Kriegsausbruch hat entsprechende Massnahmen ausgelöst. Es gibt ja nicht einmal eine Task Force Ukraine, die den Namen verdient und Rückhalt auf höchster Stufe hat.

Was könnte die Schweiz tun?

Sie könnte die Aufarbeitung der Vorgänge und Erfahrungen um die Ukraine in der OSZE angehen. Dazu müsste sich auch die parlamentarische Delegation OSZE verpflichtet fühlen. Ich nehme an, die OSZE tut das nicht. Die Schweiz könnte den Reformprozess in der OSZE unterstützen. Sie könnte an der Einrichtung einer Sicherheitszone um das Atomkraftwerk Saporischja mitarbeiten oder an die Spitze der Anstrengungen zur Entminung stellen. Allgemeiner gesagt, die Schweiz müsste sich jetzt schon auf die «Situation danach» und den Wiederaufbau vorbereiten.

Wie sehen Sie diese «Situation danach»? Wie geht dieser Krieg zu Ende?

Spätestens im Frühjahr 2024 muss oder müsste es einen Waffenstillstand geben. Sonst droht die Gefahr, dass die USA ihre Waffenlieferungen und die Unterstützungen einstellen, und dann knickt die Ukraine ein. Es muss eine Pattsituation geben, Russland darf nicht gewinnen, aber auch nicht verlieren. Das gilt auch für die Ukraine. Ich gehe davon aus, dass die Demarkationslinien am Schluss etwa dort liegen, wo die Truppen stehen. Die Krim und Donbass blieben russisch. Das ist völkerrechtswidrig, aber die Realität. Und weil es völkerrechtswidrig bleibt, kann es nur ein Waffenstillstand, aber kein Friedensschluss sein.