Kolumne

Neue Reformideen für die EU: Konsequenzen für die Schweiz?

von Gret Haller* | August 2024
Dank Beat Jans und Ueli Maurer, dem heutigen Bundesrat der SP und dem ehemaligen der SVP, hat die Auseinandersetzung  über das neue Verhandlungspaket mit der EU («Bilaterale III») begonnen. Parallel dazu nimmt in der Union die Diskussion über «Erweiterung» und «Vertiefung» neu Fahrt auf – mit Vorschlägen, die für das wirtschaftlich integrierte Mitglied Schweiz attraktiv werden könnten. Dies ist die erste von zwei Kolumnen zum Thema. In einer zweiten wird die Autorin näher auf das Verhältnis von Europa- und Völkerrecht und den Vorschlag eines Perspektivenwechsels hin zur Freiwilligkeit bei der über den Binnenmarkt hinausreichenden politischen Integration eingehen, und was dies für das Verhältnis zwischen Europa- und Völkerrecht bedeutet.

Im Dezember letzten Jahres hat der Europäische Rat die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit einer ganzen Reihe von Staaten beschlossen. Im Vordergrund stehen die Ukraine, Moldawien sowie Georgien, einbezogen sind aber auch die Staaten des Westbalkans, Albanien, Bosnien und Herzegovina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien. Nach einem Beitritt aller dieser Staaten wäre die heutige Zahl von 27 EU-Mitgliedstaaten auf 36 angewachsen.

Die Entscheidung ist eine Reaktion auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine. Über die  militärische Unterstützung des angegriffenen Landes hinaus wollte man die Ukraine nicht länger auf eine Beitrittsperspektive warten lassen. Die Einbeziehung von Moldawien und Georgien ist auf die für diese Staaten ebenfalls bestehende Bedrohung durch Russland zurückzuführen. Angesichts dieser neuen Situation konnte der Umstand nicht mehr ausgeblendet werden, dass die Staaten des Westbalkans schon viel länger auf eine konkrete Beitrittsperspektive warten.

Vertiefung oder Erweiterung?

Auch wenn diese Beweggründe weithin gewürdigt werden, hat der Beschluss des Europäischen Rates massive Kritik hervorgerufen, dahingehend, die EU habe sich mit diesem Plan völlig übernommen und könnte an dem Vorhaben schliesslich zerfallen. Vor einer nächsten Erweiterung müsse die institutionelle Struktur der Union konsolidiert werden, wird argumentiert. Die alte Fragestellung «Vertiefung oder Erweiterung» hat mit der Entscheidung des Europäischen Rates vom Dezember 2023 eine neue Aktualität erreicht.

In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, auf zwei Publikationen hinzuweisen, die zeitgleich im Herbst 2023 erschienen sind. Die eine ist der Bericht einer deutsch-französischen Arbeitsgruppe von zwölf Sachverständigen im Auftrag der Europa-Staatssekretärin Frankreichs und der deutschen Europa-Staatsministerin. Er trägt den Titel «Unterwegs auf hoher See: Die EU für das 21. Jahrhundert reformieren und erweitern». Die andere Publikation wurde von Christian Calliess verfasst, Professor für öffentliches Recht und Europarecht an der Freien Universität in Berlin und ehemaliger Rechtsberater des früheren  EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker. Sein Aufsatz trägt den Titel «Erweiterung und Reform der Europäischen Union».

Beide Publikationen ziehen in Betracht, dass die Verträge, welche die Rechtsgrundlage der Union bilden, zur Zeit nur mit grössten Schwierigkeiten verändert und erneuert werden könnten. Deshalb untersuchen sie auch, was ohne Vertragsänderungen schon unter der heutigen Rechtslage an Reformen möglich wäre. Aus den vielfältigen institutionellen Vorschlägen werden hier jene herausgegriffen, die sich auf die Modalitäten einer «Erweiterung» beziehen, die eine «Vertiefung» nicht verunmöglichen müsste.

Zwei Ansätze  zu Reform und Erweiterung

  • Der Bericht der Zwölf skizziert die Entwicklung der Union als ein Vier-Kreise-Modell.
    Ein innerster Kreis ist enger als die heutige Mitgliedschaft der Union und umfasst Staaten, die sich in einer vertieften Integration zusammenschließen. Diese interne Differenzierung ist in den Verträgen bereits heute vorgesehen und hat sich zum Beispiel in der Währungsunion konkretisiert.

  • Dem zweiten Kreis gehören die EU- Mitgliedstaaten an, er ist also identisch mit der heutigen Europäischen Union.

  • Ein dritter Kreis ermöglicht eine externe Differenzierung und damit die Teilnahme assoziierter Mitglieder nur am Binnenmarkt.

  • Der vierte Kreis schließlich könnte sich aus der Europäischen Politischen Gemeinschaft herausbilden, die vom französischen Präsidenten 2022 ins Leben gerufen wurde. Sie umfasst alle europäischen Staaten, die mit der EU politisch zusammenarbeiten möchten, EU-Recht aber nicht zwingend übernehmen müssen.


Christian Calliess stellt der politischen Vollintegration eines beitrittswilligen Staates ein Modell gegenüber, das auf dem ökonomischen Minimalkonsens in der EU, also dem Binnenmarkt beruht. Zu diesem Minimalkonsens gehören auch die den Binnenmarkt begleitenden ordnungspolitisch flankierenden Politiken wie Handel, Umwelt- und Verbraucherschutz. Konkret schlägt der Autor einen formellen EU-Beitritt beschränkt auf diesen Minimalkonsens vor, also einen Beitritt zum Binnenmarkt ohne die Verpflichtung zur Teilnahme an einer vertieften politischen Integration. Zur Begründung verweist Calliess auf die vergleichsweise politisch wenig sensiblen Politikbereiche, um die es dabei gehe. Und das treibende Motiv für eine Mitgliedschaft in der EU sei nach wie vor ohnehin die Teilnahme am Binnenmarkt, einschliesslich der über die Strukturfonds finanzierten Kohäsionspolitik. Wenn man neue Mitgliedstaaten von der Pflicht zur Teilnahme an der weitergehenden politischen Integration freistelle, könne man viele Konflikte der EU entschärfen, die primär um die Beschränkung der nationalen Souveränität in politischen Fragen ausserhalb des Binnenmarktes kreisen würden.

Vertiefte politische Integration in «Pioniergruppen»

Die über den Binnenmarkt hinausgehende vertiefte politische Integration kann im Konzept von Calliess über sogenannte «Pioniergruppen» von Mitgliedstaaten erreicht werden. Gemeint sind «Koalitionen der Willigen und Fähigen», wie sie heute schon für den Euro oder als Schengenraum bestehen. Neue Pioniergruppen könnten sich zum Beispiel in einer Verteidigungsunion konstituieren. Die verschiedenen Pioniergruppen bildeten sich gegenseitig überlappende Schnittmengen. Sie müssen in ihrer Zusammensetzung aus den verschiedenen Mitgliedstaaten nicht übereinstimmen.

Die Bildung der Pioniergruppen könnte im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit erfolgen, wie sie in Artikel 20 des Lissabon-Vertrages schon heute vorgesehen ist. Und wenn sich die dafür notwendige Zustimmung durch den Ministerrat nicht erreichen liesse, wäre sogar ein rein intergouvernementaler, also völkerrechtlicher Vertragsschluss denkbar.

Die Pioniergruppen würden im Konzept von Calliess allen Mitgliedstaaten offen stehen, also auch denjenigen, deren formeller Beitritt sich zunächst einmal auf den ökonomischen Minimalkonsens der EU beschränkt hat. Für die vertiefte politische Integration, die über den Binnenmarkt im Sinne des ökonomischen Minimalkonsenses hinausgeht, müssten Grundlagenverträge für die verschiedenen Pioniergruppen abgeschlossen werden.

Aber wenn die Sache funktionieren soll, müssen solche Grundlagenverträge Kautelen enthalten, von denen hier nur einige erwähnt werden sollen: Qualifizierte Mehrheitsentscheidungen, ein eigener Haushalt der Pioniergruppe und vor allem eine Austritts- und Ausschlussklausel: Es soll keinem Mitgliedstaat möglich sein, sich dauerhaft querzustellen. Das Verlassen der Pioniergruppe hätte indessen keinen Ausschluss aus der EU zur Folge, sondern lediglich eine Wiederbeschränkung auf den ökonomischen Minimalkonsens der EU, also auf den Binnenmarkt inklusive die begleitenden ordnungspolitisch flankierenden Politiken. So gingen Pioniergruppen mit dem Ziel vertiefter Integration voran, was wiederum andere Mitgliedstaaten zum Gruppenbeitritt motivieren könnte.

Perspektivenwechsel zur Freiwilligkeit

Im Unterschied zur «Gruppe der Zwölf», die sich enger an die heutigen Gegebenheiten hält, nimmt Calliess gewissermassen einen Perspektivenwechsel vor. EU-Mitgliedschaft richtet sich nicht mehr nach dem politischen Kriterium der möglichst umfassenden Integration, sondern nach dem Kriterium der wirtschaftlichen Integration in den Binnenmarkt. Das in Artikel 1 des EU-Vertrages niedergelegte Ziel einer «immer engeren Union» soll auf der Basis von Freiwilligkeit erreicht werden.

Ein Vergleich der beiden erwähnten Publikationen zeigt eine interessante Konsequenz hinsichtlich der Rechtsstaatlichkeit. In ihrer Darstellung der vier konzentrischen Kreise hat die «Gruppe der Zwölf» um die drei inneren Kreise einen dicken roten Strich gezogen und ihn als «Rechtsstaatlichkeitsgrenze» bezeichnet. Davon ausgenommen sind also nur die Staaten, die der durch Emanuel Macron initiierten Europäischen Politischen Gemeinschaft EPG angehören oder dem, was daraus noch werden könnte. Innerhalb des roten Kreises befinden sich aber auch Staaten, die schon heute mit der EU eine Assoziierung um den Binnenmarkt vereinbart haben und für welche die «Gruppe der Zwölf» ausdrücklich festhält, dass sie nicht an die Zielsetzung der «immer engeren Union» gebunden seien.

Was Calliess skizziert, sind im Wesentlichen zwei Schritte. Zum einen würde die formelle EU-Mitgliedschaft auch jenen Staaten angeboten, die sich auf die Teilnahme am Binnenmarkt beschränken wollen, mithin allen Staaten innerhalb der «Rechtsstaatlichkeitsgrenze» im Bericht der Zwölf. Und zum anderen würde die Möglichkeit zur vertieften politischen Integration im Sinne der beschriebenen Pioniergruppen ebenfalls allen Staaten innerhalb dieser Grenze angeboten.

Und die Schweiz?

Der vorliegende Beitrag befasst sich nicht mit den gegenwärtigen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU zu den «Bilateralen III». Aber die skizzierte Erweiterungsdebatte  berührt auch die Schweizer Europapolitik  Interessanterweise finden diesbezüglich seit dem Vorfeld zu den Erst-August-Feiern Auseinandersetzung zwischen einem Bundesrat und einem Alt-Bundesrat statt, wie wir sie in dieser Form lange nicht mehr erlebt haben. Gut so, auch da nimmt eine Diskussion Fahrt auf, wie man sie der Politik nur wünschen kann.

Wollte dieses Land nicht schon immer den Einbezug in den europäischen Binnenmarkt, ohne die weiterführenden Politiken mittragen zu müssen? Was würde in einer wie oben skizzierten «neuen Architektur» der EU noch gegen einen EU-Beitritt eingewendet werden können, der genau das längst Gewünschte ermöglicht? Die Pioniergruppe «Schengen» – oder wie immer sie sich dann nennen würde – wäre wohl bereits gesetzt. Und wie würden Diskussionen angesichts einer dannzumal bestehenden Pioniergruppe «Verteidigung» ablaufen?

Auch wenn es bei der heutigen "Architektur" der EU bleibt, muss die Schweiz dieser Organisation so bald als möglich beitreten. Für Schweizerinnen und Schweizer, die nicht über die Doppelbürgerschaft in einem EU-Mitgliedstaat verfügen, ist die heutige Situation zutiefst unwürdig: Sie dürfen nicht demokratisch mitwirken in einer Organisation, die für die Geschicke der Schweiz viel bedeutsamer ist als alles, was in diesem Land noch selber bestimmt werden kann. Und angesichts von Klimawandel, Krieg auf unserem eigenen Kontinent und neuen geopolitischen Konstellationen wird sich dieses Missverhältnis noch verschärfen.

Es ist sinnvoll, sich mit den hier beschriebenen Entwicklungsperspektiven der EU auseinanderzusetzen. Es könnte nämlich sein, dass sich der Weg der Schweiz in die EU unversehens auf vielfältigeren Wegen abspielt, vielfältiger als es Beitrittsbefürworterinnen und -befürworter meistens vor Augen haben.

**********************************************************************************************************

*Gret Haller war Mitglied des Nationalrates (SP) und dessen Präsidentin, Schweizer Botschafterin beim Europarat und OSZE-gewählte Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien&Herzegovina. Sie ist Ehrenpräsidentin der SGA-ASPE. Ihr neuestes Buch: „Europas eigener Weg. Politische Kultur in der Europäischen Union“, Rotpunktverlag 2024