Kolumne

Entwicklungspolitik ist Sicherheitspolitik – das Beispiel Armenien

von Werner Thut* | August 2024
Das Budget für Schweizer Entwicklungszusammenarbeit steht unter Druck. Der Bundesrat schlägt Kürzungen vor, um die Aufrüstung der Armee zu finanzieren, der Ständerat will noch weiter gehen. Das Beispiel Armenien zeigt, dass auch Schweizer Entwicklungsprojekte sicherheitspolitischen Sinn haben. Sie sind wirksam, sparen Kosten und werden hoch geschätzt.

Vor dem Hintergrund des Ukraine-Kriegs hat die Diskussion um einen Armeeausbau stark an Zugkraft gewonnen. Der Bundesrat will deren Zahlungsrahmen 2025-2028 schuldenbremsenkonform von 21.7 auf 25.8 Milliarden erhöhen. Der Ständerat will mit Beschluss vom Juni 2024 gar 29.8 Milliarden bereitstellen.

Woher soll das Geld kommen? Eine Schlüsselrolle spielt ein Vorschlag des Glarner FDP-Ständerats Benjamin Mühlemann, den sich der Ständerat gleich zu eigen gemacht hat: Vier Milliarden sollen bundesintern eingespart werden, davon 2 Milliarden durch Kürzungen bei der Entwicklungszusammenarbeit (EZA).

Die Begründung von B. Mühlemann war: Entwicklungszusammenarbeit sei nicht wirksam, sie sei verzichtbare Image-Pflege, die aktuelle Lage erfordere mehr Ausgaben für die Sicherheit der Schweiz.  Damit widerspricht er einer Vielzahl von Fachleuten, welche  die Schweizer EZA  als nachhaltig, wirksam und auch sicherheitspolitisch als unverzichtbar beurteilen. Gleichzeitig zeigen sich sicherheitspolitische Experten über alle Parteigrenzen hinweg erstaunt, dass weitreichende Finanzierungsentscheide zu Volumina und Zeithorizonten gefällt werden, ohne dass vertiefte Analysen zur sicherheitspolitischen Lage, eine diesbezügliche umfassende Strategie und einigermassen detaillierte Daten zum Ressourcenbedarf inkl. militärische Bedarfsentwicklung vorliegen.

Der Ständerat schiesst ein Eigentor

Die Konsequenzen für die EZA wären fatal. Nachdem der Bundesrat die 1.5 Milliarden für den Wiederaufbau der Ukraine komplett dem Schweizer EZA-Budget entnehmen will – was über Jahre eine reale Kürzung aller anderen EZA-Ausgaben bedeutet -, würde die ständerätliche Version zu zusätzlichen Kürzungen von fast 20 Prozent führen. Resultat: ein kompletter Rückzug aus schätzungsweise 6-8 Schwerpunktländern und eine generelle weitere Reduktion des internationalen Engagements der Schweiz für Armutsbekämpfung, Frieden, Klima.

Was nicht zuletzt ein kapitales Eigentor für die Schweizer Sicherheitspolitik wäre. Denn Frieden, Sicherheit und Demokratie in Europa entscheiden sich nicht allein auf dem ukrainischen Schlachtfeld. Vielmehr umfasst laut einer Studie der renommierten Carnegie Stiftung (New York; Th. de Waal et al.) der Bogen der Instabilität auf dem Kontinent mindestens fünf Länder vom Balkan bis in den Südkaukasus. Je weiter weg von der EU-Aussengrenze oder von Beitrittsperspektiven, desto instabiler. Umso grösser ist die sicherheitspolitische Bedeutung der Schweizer EZA in ihren Schwerpunktländern Armenien, Georgien und Moldavien. Denn dort führt Russland einen intensiven Propaganda-Krieg um die Herzen und Köpfe, der Verteidigungswillen, Zukunftshoffnungen und Regime-Stabilität dieser Länder untergräbt.

Das Beispiel Armenien

Was ist die Antwort der Schweizer EZA auf diese Herausforderungen? Am Beispiel Armenien, das Teil eines mehrjährigen Regionalprogramms Südkaukasus ist, kann dies wie folgt skizziert werden:

  • Die Schweizer EZA unterstützt institutionelle Reformen für dezentrale Selbstbestimmung, Bürgerbeteiligung, unabhängige Medien und eine starke Zivilgesellschaft, um demokratische Errungenschaften abzusichern. Beispiele dafür sind die Langzeitprojekte «Lokale Selbstverwaltung» und «Demokratische Institutionen und partizipative Politik». Diese tragen direkt zu Bestrebungen der Regierung gegen externe Propaganda und politische Umsturzpläne bei.

  • Projekte für duale Berufsbildung in Landwirtschaft und Tourismus, aber auch marktwirtschaftliche Projekte zugunsten von Berg- und Grenzregionen geben Jung und Alt Perspektiven für wirtschaftlichen Erfolg und die Teilhabe an globalen Bildungstrends. Besonderes Augenmerk verdienen dabei neue Technologie-Projekte wie «IT für Alle - Kostenfrei» unter armenischer Führung in weltweiter Vernetzung, inklusive - geplant - in Zürich. Und auch in Ständerat Mühlemanns Kanton Glarus. Dies als Strategie gegen Hoffnungslosigkeit und permanente Auswanderung der besten Talente Armeniens ins Ausland.

  • Rechtzeitig zur Weltklimakonferenz vom November 2024 in Aserbajdschan zeigt ein Expertenbericht unter der Leitung der Schweizer EZA in Armenien die Zusammenarbeitsmöglichkeiten in den Bereichen Umwelt und Sicherheit im Südkaukasus auf. Objektive gemeinsame klimapolitische Interessen und wechselseitige Abhängigkeiten etwa im Bereich Wasser können als Grundlage für Zusammenarbeit über Konfliktgrenzen dienen. Eine langjährige und international anerkannte Spezialität der Schweizer EZA.

  • Lange schon vor dem Krieg von 2020 zwischen Armenien und Aserbajdschan ist die Schweizer EZA über ihre Projektpartner in den Grenzgebieten präsent. Dadurch wurde die Schweizer EZA ab 2022 automatisch zu einem Schlüsselpartner der EU beim Aufbau ihres Team Europe PLUS (das Plus steht für die Schweiz) und bei der Lancierung des Projekts Resilient Syunik. Dieses fokussiert auf eine geopolitische Schlüsselregion im Dreieck Iran – Aserbaijdschan - Armenien und dient der zivilen Absicherung der territorialen Integrität des armenischen Staatsgebiets.


Der Gewalt vorbeugen : Konfliktprävention

Das Armenien-Programm der DEZA ist ein gutes Beispiel, wie im Rahmen übergeordneter Entwicklungs-Ziele auch konfliktpräventive Zwecke verfolgt werden, so namentlich: (1) Stabilisierung und demokratische Transformation innenpolitischer Konflikte; (2) Aufrechterhaltung wirtschaftlicher Perspektiven für die Menschen in Grenzgebieten; (3) Stärkung der Zuversicht und Verbundenheit der Jugend mit ihrer Heimat; (4) langfristige Förderung der grenzüberschreitenden regionalen Zusammenarbeit auf technischer Ebene.

Damit trägt die Schweizer EZA dazu bei, dass vorhandene Spannungen nicht in gewalttätige Konflikte umschlagen. Im Einzelnen macht sie Schweizer Erfahrungen und Problemlösungen konsequent nutzbar, entwickelt daraus eigenständige Initiativen und bringt diese pro-aktiv ein. Je kompetenter und origineller, desto stärker die Akzeptanz im Gastland sowie die Aussichten auf Wirkung und Unterstützung durch andere. Entsprechend sind solche Vorschläge im permanenten Dialog mit gleichgesinnten Partnern – transparent, aber diplomatisch umsichtig – voranzutreiben und auf Zusammenarbeit anzulegen, insbesondere mit grossen bilateralen Akteuren wie der EU, den USA, aber auch relevanten multilateralen Organisationen.

Aufschlussreich ist auch eine Kosten-Nutzen-Betrachtung von Investitionen in Sicherheit durch EZA und Militär. So entsprechen die für das Armenien-Programm 2022-2025 ursprünglich geplanten Ausgaben (20 Millionen Franken) gerade mal 1 Prozent der Summe, die von der EZA zum Militär verlagert würde. Modellrechnungen des wissenschaftlichen Institute for Economics and Peace (Sydney/New York/The Hague/ Mexico City) zeigen zudem ein im Vergleich zu Militärausgaben in höchstem Grad vorteilhaftes Kosten-Nutzen-Verhältnis von Investitionen in präventive Friedenspolitik.  Ein so investierter Franken würde in Armenien geschätzte 16 Franken für militärische Verteidigung sparen.

Das grundlegende Kapital für eine solche, auf Konfliktprävention angelegte  Politik ist die Glaubwürdigkeit der Schweizer EZA, basierend auf deren Verlässlichkeit, Berechenbarkeit und Professionalität. Der entscheidende Faktor für dessen Inwertsetzung ist dabei prinzipientreue und vorhersehbare politische Leadership durch die vorgesetzte Behörde: Bundesrat und EDA.

Was konnte davon in Armenien erreicht werden? Mehrere der erwähnten Projekte wurden lanciert, andere Arbeiten mussten aufgrund der EZA-Kürzungen zugunsten der Ukraine bereits sistiert werden. Zusätzliche Kürzungen hätten den Verzicht auf neue Projekte sowie eine zeitliche Erstreckung oder die vorzeitige Beendigung existierender Projekte zur Folge. Das Schweizer Engagement ginge zurück und würde im schlimmsten Fall mittelfristig beendet.

Bislang nicht näher in Betracht gezogen wurde seitens der Schweiz eine Mitwirkung am prominentesten Projekt der internationalen Gemeinschaft: die seit Februar 2023 tätige zivile unbewaffnete Beobachtungsmission EUMA der Europäischen Union. Weitere Staaten ausserhalb der EU (wie Kanada und Norwegen) sind dazu gestossen. Für die Nichtbeteiligung der Schweiz gibt es insofern gute Gründe, als die Schweiz  mit einem alternativen, eigenständigen Beitrag zur Konfliktprävention einen - relativ - grösseren Mehrwert schaffen würde. Nicht zufällig appellierte der armenische Botschafter in der Schweiz im Mai 2024 eindringlich an sein Gastland, es möge seine geachtete internationale Position nutzen und die junge Demokratie im kriegszerrissenen Südkaukasus weiter unterstützen.

Am Ball ist der Nationalrat

Wie geht es weiter im Parlament? Nicht überzeugt von der Arbeit des Ständerats, sistierten die zuständigen Nationalrats- Kommissionen für Sicherheit und Finanzen kurzerhand jegliche Beschlussfassung und erteilten den Auftrag, breit abgestützte Vorschläge für die Finanzierung der zusätzlichen Armeeausgaben zu präsentieren.

Dies erlaubt es der Politik, in den kommenden Wochen zur Kenntnis zu nehmen, dass die EZA wirksame, kostensparende Schweizer Sicherheitspolitik ist, die zudem wesentlich zum internationalen Ansehen der Schweiz beiträgt. Damit das so bleibt, dürfen Bundesrat und Parlament das EZA-Budget allerdings nicht weiter aushöhlen; vielmehr müssen sie die hierfür notwendigen Mittel bereitstellen. Am EDA wird es sein, mit entsprechender leadership dafür zu sorgen, dass das bestehende Potential für eine strategisch intelligente, präventiv wirksame Entwicklungspolitik der Schweiz genutzt und weiter ausgebaut wird.  Anstatt einer Vision zu folgen, die immer mehr auf globale Mitgestaltung verzichtet, sich weitgehend auf humanitäre und materielle Katastrophen-Bewältigung auf tiefem Niveau beschränkt und letztlich die eigene Sicherheit untergräbt.

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*Werner Thut war bis Juni 2024 stellvertretender Regionaldirektor des Schweizer EZA-Programms im Südkaukasus. In dieser Funktion war er verantwortlich für das DEZA-Programm in Armenien, wo er auch Stellvertretender Missionschef war. Eine Kurzfassung dieses Artikels ist in der «Südostschweiz»-Ausgabe vom 6. August 2024 erschienen.