Lesetipp

Justiz, Macht und Dialog – Erfahrungen in Konflikten

von Christoph Wehrli | July 2024
Jean-Daniel Ruchs Arbeit als Schweizer Diplomat hatte Schwerpunkte im Westbalkan und im Nahen Osten. In seinem Rückblick stellt er die Tätigkeit bei der Verfolgung von Kriegsverbrechen und in der Friedensförderung in den Kontext von Aufstieg und Niedergang der Bestrebungen zu einer rechtbasierten internationalen Ordnung.

Einer weiteren Öffentlichkeit wurde Jean-Daniel Ruch im Herbst 2023 bekannt, als er vom Bundesrat zum Chef des neuen Staatssekretariats für Sicherheitspolitik ernannt wurde und einen Monat später unter dem Druck drohender Enthüllungen oder Anschwärzungen auf den Antritt des Amtes verzichtete. Sein Buch über seine diplomatische Laufbahn war damals bereits weitgehend geschrieben, und er befasst sich darin nicht mit Sicherheitspolitik - oder doch insofern, als politische Friedensförderung und internationale Gerichtsbarkeit, seine Hauptanliegen, als Beiträge dazu gelten können.

Nachkriegsarbeit im ehemaligen Jugoslawien

Das Streben nach Frieden, Toleranz und Dialog, vielleicht sogar die Berufswahl, ergab sich nach Ruch aus dem, was er (1963 geboren) als Knabe während des Jurakonflikts erlebt hatte. Die Eskalation des Hasses hatte im umkämpften Amtsbezirk Moutier besonders spaltend gewirkt. Einer von Ruchs ersten Auslandposten war das OSZE-Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR). Dieses begleitete namentlich die ersten Wahlen in Bosnien-Herzegowina (1996) und hatte für Ordnung zu sorgen, als sich nach der ersten Auszählung eine Beteiligung von mehr als 100 Prozent ergab. Vor der Präsidentenwahl in Serbien im Jahr 2000 mobilisierte Ruch, nun von der Botschaft in Belgrad aus, die Zivilgesellschaft, das heisst, die Schweiz unterstützte wie andere Staaten die Opposition gegen den Kriegspräsidenten Slobodan Milosevic, auch finanziell – und mit knappem Erfolg.

Als seine aufregendsten und nützlichsten Jahre bezeichnet Ruch die Zeit als diplomatischer Berater von Carla Del Ponte, Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien. Er zeigt grossen Respekt vor der hartnäckig kämpfenden Tessinerin, auch wenn deren polternd-konfrontative Art kaum die seine ist. Besonders geht er auf die Bemühungen ein, die Heimatstaaten der angeklagten Kriegsverbrecher zu deren Überstellung zu bewegen. Wichtig war dabei der politische Druck der EU, die im Gegenzug Kroatien und Serbien Beitrittsverhandlungen in Aussicht stellte. Die USA hingegen sollen Radovan Karadzic zugesagt haben, ihn unbehelligt zu lassen, wenn er sich aus dem öffentlichen Leben zurückziehe.

Ernüchternd war die Erfahrung beim Versuch, Kriegsverbrechen der kosovo-albanischen Seite zu ahnden. Ruch spricht nicht nur von der Einschüchterung oder Beseitigung von Zeugen durch Kreise der Beschuldigten, sondern auch vom Unwillen der Briten und von Kollaboration der Uno-Mission. «Die internationale Justiz ist von den Grossmächten und ihren Interessen abhängig», konstatiert er. Als Del Ponte, mittlerweile Botschafterin in Argentinien, in einem Buch auf das Thema zurückkam, war es allerdings Bundesrätin Micheline Calmy-Rey, die ihr untersagte, dafür zu werben, weil es ihr bei ihrem Dringen auf Kosovos Unabhängigkeit ungelegen kam. Ruch würdigt die damalige Aussenministerin im Übrigen als bedeutende Bundesrätin, und sie hat zum Buch ein Vorwort beigesteuert.

Vertane Chancen im Nahen Osten?

2008 bestimmte Calmy-Rey den mit dem Nahen Osten nicht vertrauten Ruch überraschend zum Sonderbotschafter für die konfliktreiche Region. Er ergriff Initiativen für eine Syrienkonferenz (2012) und für ein Treffen der libanesischen «Lager» in der Schweiz. Von Israel, das seine Ernennung zum Uno-Vertreter in Libanon verhindert haben soll, erhielt oder erwirkte er die Zustimmung zur Fortführung der Bemühungen der Schweiz. Bern unterstützte lange die 2003 lancierte «Genfer Initiative», ein von Personen aus der Zivilgesellschaft beider Seiten ausgearbeitetes Friedensprojekt, und pflegte auch den Dialog mit der Hamas. Unter anderem brachte Ruch 2009 in Feusisberg (SZ) Vertreter der islamistischen Organisation mit früheren IRA-Kämpfern zusammen, die ihnen das Muster des Nordirland-Abkommens nahebringen sollten. Als Spätfolge davon betrachtet der Diplomat, dass sich die Hamas 2017 auf die Idee eines palästinensischen Staats neben Israel einliess, ohne allerdings ihr Fernziel (Herrschaft bis zum Mittelmeer) aufzugeben. Dass die «Genfer Initiative» angesichts des Widerstands der israelischen Regierung und ihrer Partnerstaaten schon unter Bundesrat Didier Burkhalter auch in Bern immer mehr an Rückhalt verlor, ist für Ruch ein grosses Ärgernis. Als Botschafter in Tel Aviv (2016-2021) knüpfte er noch Kontakte zwischen israelischen Hightech-Unternehmern und Fachkräften aus dem besetzten Gebiet.

Von den Angelsachsen enttäuscht

Eine Chance sah Ruch, damals Botschafter in Ankara, auch im Frühjahr 2022, als die Türkei russisch-ukrainische Gespräche vermittelte und ihn wegen der Neutralitätsfrage beizog. Selenski sei einem raschen Waffenstillstand nicht abgeneigt gewesen, habe sich jedoch mit den eigenen Hardlinern arrangieren müssen, die «durch die Signale aus London und Washington ermutigt» worden seien.

Nicht nur in diesem Fall äussert sich der Autor bitter über die angelsächsischen Mächte (und dies kann den Eindruck einseitiger Schuldzuweisungen wecken). Der Westen habe sich bei dem ab 1990 unternommenen Aufbau einer «internationalen Gouvernanz» unglaubwürdig gemacht. Die Wende habe der nicht zu rechtfertigende Krieg gegen den Irak Saddam Husseins (2003) gebracht. Russland sei bei Georgien und der Ukraine diesem Muster gefolgt. «Die Geopolitik hat also ihr Comeback gefeiert.» Auch heute sieht Ruch aber ein Potenzial in der «soft power» der Schweiz mit den Elementen Neutralität, direkte Demokratie und Verbundenheit mit dem Recht.

Mit den «kleinen Geschichten» seiner Memoiren will Jean-Daniel Ruch die «grosse Geschichte» aufschlüsseln. Allerdings bleibt das Bild jeweils fast gezwungenermassen punktuell, subjektiv und undokumentiert.  Anekdotisches erhält relativ viel Gewicht, und aus bestimmten Erfahrungen scheinen sich etwas rasch allgemeine Urteile zu ergeben.

Gegen den Schluss geht Ruch auf die Angriffe gegen seine Person im vergangenen Herbst ein. Er sieht «eine  professionelle Organisation», «spezialisiert auf Spionage», dahinter. Bundesrätin Viola Amherd habe nachgegeben, obwohl in der Verwaltung «nichts» an persönlichen Daten (gegen ihn) vorgelegen sei.  Klarheit gewinnt man hier nicht. Bedauerlich bleibt, dass eine engagierte Diplomatentätigkeit ein solches vorzeitiges Ende fand.

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Jean-Daniel Ruch: Crimes et tremblements. D’une guerre froide à l’autre au service de la paix et de la justice. Editions Favre, Lausanne 2024. 172 S., Fr. 25.-.

Deutsche Übersetzung: Friede und Gerechtigkeit. Erfahrungen eines Schweizer Diplomaten zwischen Balkan, Russland und Nahost. Weltwoche Verlags-AG, Zürich 2024. 173 S., Fr. 34.-.