Editorial

Nächstes Mal bitte besser!

von Rudolf Wyder, Vizepräsident der SGA-ASPE | October 2023
Was Aussenpolitik und zumal Europapolitik anbelangt, ist die zu Ende gehende Legislatur eine Legislatur zum Vergessen. Dass das Umfeld komplexer, anspruchsvoller, gefährlicher, die Konkurrenz härter geworden ist, entzieht sich unserem Einfluss. Wie wir uns global und europäisch positionieren, liegt hingegen ganz in unserer Hand. Und hier müssen wir in der neuen Legislatur dringend über die Bücher.

Die Systemrivalität zwischen China und den USA spitzt sich gefährlich zu. BRICS plus fordert die liberale internationale Ordnung heraus. Die europäische Sicherheitsordnung liegt nach Russlands Überfall auf die Ukraine in Trümmern. Regionale Konflikte und globale Polarisierung potenzieren sich. Die Dämme gegen nukleare Proliferation drohen zu bersten. Der Multilateralismus lahmt, internationale Institutionen sind immer öfter paralysiert. Die ökonomische Globalisierung erlebt eine Gezeitenwende. Während die USA wanken, sucht die EU unter Mühen ihre Rolle als geostrategischer Akteur.

Und die Schweiz? Eine ernstzunehmende öffentliche Debatte darüber, wie mit den vielschichtigen Herausforderungen umzugehen ist, ist bisher ausgeblieben. Wie man durch die zunehmende globale Polarisierung zu navigieren gedenkt, bleibt unklar. Von Putins Angriffskrieg hat sich die Schweizer Diplomatie (allerdings nicht nur sie) überraschen lassen. Wäre es im Falle eines militärischen Ausgreifens der Volksrepublik China anders? Wie Neutralität hier, heute und vor allem morgen zu handhaben ist, bleibt ungeklärt. Fest steht nur, dass ihr Ansehen zurzeit leidet. Welchen Platz wir in Europa einnehmen möchten, ob als Kunde, Satellit oder Akteur, wissen wir selber nicht. Das Verhältnis zum zentralen Partner EU ist nachhaltig gestört und wird im Wesentlichen defensiv angegangen. Einzige Konstante ist die Beschwörung des «Sonderfalls». Verstanden und goutiert wird dieser Exzeptionalismus von unseren Partnern immer weniger.

Wachsende Distanz

Dominiert wird die aussenpolitische Legislaturbilanz vom Zurückschrecken des Bundesrates vor der Aufgabe, ein institutionelles Arrangement (InstA) mit der EU unter Dach und Fach zu bringen. Ein solches hätte dem «Bilateralismus», jenem kleinsten gemeinsamen Nenner schweizerischer Europapolitik, für einige Zeit wieder minimale Akzeptanz verschaffen sollen. Den Verhandlungsfaden mutwillig zu kappen, und dies ohne Plan B, kommt einer bedingungslosen Kapitulation gleich. In jeder parlamentarischen Demokratie hätte die Regierung daraufhin zurücktreten müssen und Neuwahlen wären unumgänglich geworden.

Nicht so in der Schweiz. Im Parlament gab es zwar ein Aufmucken, dieses blieb aber ohne Konsequenz. Es wird weitergemacht, als wäre nichts. Bilateralismus wird unverdrossen beschworen, obwohl man ihn eben selber torpediert hat. Mit Brüssel wird endlos sondiert, mit dem Effekt, dass sich das Gegenüber zunehmend hingehalten, ja verschaukelt fühlt. Das innenpolitische Hickhack verläuft in ausgetretenen Pfaden, eine Besinnung auf strategische Prioritäten ist nicht erkennbar. Inzwischen erodieren die Standortbedingungen. Am Forschungsprogramm Horizon Europe und am Mobilitätsprogramm Erasmus+ ist die Schweiz nicht mehr beteiligt, bestehende Abkommen veralten, technische Normen werden nicht mehr aufdatiert, zukunftsweisende neue Vereinbarungen sich blockiert. Dem wird nicht mit neuen Ideen und frischem Elan begegnet, sondern mit Trotz und einer gewissen Wehleidigkeit (die bisweilen gar paranoide Züge annimmt).

Gegenüber der EU hat sich die Schweiz durch den Verhandlungsabbruch definitiv in die in die Position des Bittstellers gebracht. Ohne es selber wahrzunehmen, haben wir uns in den letzten Jahren immer mehr von Brüssel wegbewegt. Daran ändert auch der nachträgliche Nachvollzug der Ukraine-Sanktionen nichts.

Kontrastierende Standortbestimmungen

Zwei praktisch synchrone Standortbestimmungen, die eine in den eidgenössischen Räten, die andere im Europäischen Parlament, machen die Distanz augenfällig. In Bern stand in der Herbstsession eine bundesrätliche Lagebeurteilung zur Debatte, die erste seit dem InstA-Übungsabbruch: eine gründliche Auslegeordnung zum Status quo, dazu einige Hinweise zum Stand der Sondierungen sowie zu vier Handlungsoptionen (Freihandel, EWR-Beitritt, EU-Beitritt Bilateralismus). Fazit: der «bilaterale Weg» ist alternativlos, denn er erlaubt «bestmögliche Beteiligung am EU-Binnenmarkt sowie Kooperationen mit der EU in ausgewählten Interessensbereichen unter Bewahrung eines grösstmöglichen politischen Handlungsspielraums».

In den eidgenössischen Räten, die den Bericht am zweitletzten Sitzungstag der Legislatur behandelten, fehlte es nicht an Einsichten (etwa betreffend Zuständigkeit des EuGH für die Auslegung von EU-Recht) und Mahnungen (vom Sondieren endlich zum Verhandeln überzugehen und die Erosion bisheriger Abkommen zu stoppen). Doch im Vordergrund stand der helvetische Wunschkatalog (Beteiligung an Horizon Europe, Stromabkommen, Gesundheitsabkommen usf.), und die Rede ging vor allem um Sonderregelungen, Vorbehalte und Ausnahmen, oft mit dem Unterton trotziger Abwehr. Den Vogel schoss ein vormaliger Ständeratspräsident ab, der zu Protokoll gab: «Vielleicht gefällt es der EU nicht, dass es in ihrer Mitte ein Staatswesen wie das unsrige gibt».

 In Strassburg stand Anfang Oktober ein Bericht des österreichischen EU-Parlamentariers Mandl zu den Beziehungen Schweiz-EU zur Debatte. Dominierende Themen hier: die geopolitischen Herausforderungen, gemeinsame Werte, gemeinschaftliche Politiken und europäische Projekte (etwa in den Bereichen Umwelt und Klima, Bildung und Forschung, Rüstung und Verteidigung, Migration, Energie, Kohäsion, gemeinsamer Auftritt in multilateralen Foren). «Wir wollen enger mit den Schweizern zusammenarbeiten, auf Augenhöhe, im Respekt der gegenseitigen Souveränität, aber eben auch auf einer fairen und gesetzlich, vertraglich geregelten Basis», betonte der Deutsche Andreas Schwab. Kommissar Sefcovic und andere Sprecher brachten allerdings auch eine gewisse Ungeduld ob des Schweizer Zauderns zum Ausdruck und äusserten die Hoffnung, dass nach den eidgenössischen Wahlen rasch vom Sondieren zum Verhandeln übergegangen wird und dass die Verhandlungen noch während der Amtszeit der aktuellen EU-Kommission abgeschlossen werden können. Diese Erwartung lässt sich auch in der zu Ende der Debatte verabschiedeten Resolution nachlesen.

Legt man die beiden Standortbestimmungen nebeneinander, werden die Unterschiede in Horizont und Tonalität augenfällig: Innenpolitik beide Male, gewiss, aber eidgenössisch-national hier, europäisch-kontinental dort. Treten an Ort hier, Zukunftsorientierung im Bewusstsein geopolitischer Herausforderungen dort. Debatte ohne Konsequenz hier, Pragmatismus und eine gewisse Erwartungshaltung dort. Natürlich schwingt hier wie dort Verhandlungstaktik mit. Aber etwas schleckt keine Geiss weg: der Kontrast der europäischen Diskurse ist frappant!

Denkblockaden beseitigen

Wie lange wollen wir uns dieses Aneinander-vorbei-Reden leisten? Wie weit soll die Schweiz noch von der längst realen europäischen Innenpolitik wegdriften, bis wir eine Kurskorrektur einleiten? Aussenpolitisch versierten Mitgliedern der eidgenössischen Räte ist die Distanz zwischen dem schweizerischen Europadiskurs und der europäischen Politik bewusst. Das Wahlpodium der SGA am 20. September zeigte dies eindrücklich. Nur sind Aussenpolitiker in unserem Parlament dünn gesät, und sie werden in ihren eigenen Parteien nicht gehört.

Und doch bleibe ich optimistisch. Eines schönen Morgens wird diese im Grunde pragmatische Nation nämlich aufwachen und feststellen, dass die mentalen Hürden, die wir uns selber in den Weg gelegt haben, gegenstandslos sind. So wie’s 1963 beim Beitritt zum Europarat ging, so wie’s 1999 beim UNO-Beitritt war, so wie’s bei der Aufgabe des granitenen Bankgeheimnisses war, so wie’s bei den Leopard-Lieferungen ist.

Um sich von hausgemachten Denkblockaden zu befreien, bedarf es lediglich der Einsicht, dass es nicht in unserem Interesse liegen kann, das Zelebrieren des «Sonderfalls» vor die rationale Analyse von Situation, Optionen und Prioritäten zu stellen. Die neue Legislatur bietet dazu eine neue Chance.