Lesetipp

Plädoyer für das postnationale Europa

von Rudolf Wyder | June 2024
Als Romancier hat sich Robert Menasse mehrfach mit dem Alltag der Europäischen Union auseinandergesetzt. Nun legt er als Essayist ein fulminantes Plädoyer für ein souveränes, demokratisches, nachnationales Europa vor.

In seinen Bestsellern «Die Hauptstadt» und «Die Erweiterung» hat uns der Wiener Autor Robert Menasse einfallsreich und maliziös, illusions- und schonungslos Blicke hinter die Kulissen des europäischen Projekts vermittelt. Da wimmelt’s von guten Intentionen und gescheiterten Vorhaben, von profilierungssüchtigen neben schlappen Kommissaren und Kommissarinnen, hochmotivierten wie auch resignierten Beamten, Lobbyisten für hochgemute oder abwegige Anliegen, postnationalen Europäern neben beinharten und verkappten Nationalisten. In seinem Essay «Die Welt von morgen» legt Menasse jetzt auf knapp 200 Seiten, ohne Mühen, Widersprüche und Abwege zu beschönigen, ein klarsichtiges und bilderreiches Plädoyer für die Idee der europäischen Integration vor.

Das europäische Projekt auf das real existierende «Brüssel» zu reduzieren, greift für Menasse zu kurz. Was auf dem Spiele steht, ist schlicht die Zukunft eines Kontinents mit komplexer Geschichte, in seiner Vielfalt und in stürmischem geopolitischem Umfeld. Als Konsequenz aus den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind die europäischen Nationen, so der Autor, «bewusst und planvoll in einen gemeinsamen nachnationalen Prozess eingetreten». Oberstes Ziel: Frieden auf dem europäischen Kontinent, zwingend verbunden mit der Absicherung demokratisch-rechtstaatlicher Errungenschaften. Nicht der einzige, aber der wichtigste Kristallisationspunkt dieses «nachnationalen Europa under construction» ist die EU – Hauptbühne der Integration und Objekt des Hasses der unverbesserlichen Nationalisten.

 

Schlechte Erfahrungen mit Nationalismus

Deutsch-französischer Krieg 1870/71, Balkankriege, Erster Weltkrieg, Einmarsch Polens in die ukrainische Hauptstadt Kiew, polnisch-sowjetischer Krieg, Zweiter Weltkrieg, dazu der Holocaust – alles im Zeitraum eines Menschenlebens, alles in Europa! Dies war der Erfahrungshintergrund der Gründergeneration des europäischen Einigungsprojekts, ruft Menasse in Erinnerung. «Der Nationalismus hatte zu den grössten Menschheitsverbrechen geführt und Europa verwüstet. Das sollte nie mehr geschehen können.» Daher der Plan, die verfeindeten Nationen untereinander zu verflechten, übergeordnete gemeinsame Interessen zu entwickeln, den Nationalismus zu überwinden. Diese Utopie, so Menasse, wurde zum realen historischen Prozess.

Der für Nationalisten alleinseligmachenden «Territorialautonomie» setzt der Autor eine «Personalautonomie» entgegen, nämlich das Recht des Individuums auf Zugehörigkeit zu einer Gruppe ohne Revierkampf. Einen Vorläufer sieht er im multiethnischen Habsburgerreich. Dass dieses 1919 unter Berufung auf Wilsons «Selbstbestimmungsecht der Völker» in Nationalstaaten zerlegt wurde, zog eine bis heute nicht abreissende Serie von Konflikten nach sich. «Wer Ethnie und Territorium zusammendenkt, befürwortet nolens volens ethnische Säuberungen auf einem bestimmten Territorium, Umsiedlungen, die Überhöhung der eigenen Idee von sich selbst und das Schüren von Konflikten gegen andere», urteilt Menasse. Was ihm vorschwebt, ist die Überwindung der Nationalstaaten in einer nachnationalen Verflechtung, keineswegs aber deren Aufhebung in einer Supernation.

Indessen stehen die Zeichen – nicht erst seit den Europawahlen 2024 – eher auf Renationalisierung denn auf Überwindung des Nationalismus in Europa. Ursachen sieht Menasse nicht nur in der langen, endlich abgeschüttelten Fremdherrschaft in Mittel- und Osteuropa, sondern bemerkenswerterweise auch in der Wiedervereinigung Deutschlands als Nation. Und er fragt sich, wie eine im Überlebenskampf gehärtete ukrainische Nation sich in die postnationale EU einfügen soll. «Aber vielleicht befördert die russische Aggression doch die Diskussion über eine notwendige gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU, und über diesen Umweg eine Diskussion über die grundsätzliche Notwendigkeit von Gemeinschaftspolitik statt der Verteidigung nationaler Souveränität, die, wie sich zeigt, keine Nation alleine verteidigen kann.»

 

Wie weiter?

Es gehe gar nicht unmittelbar darum, die Nationen abzuschaffen, beschwichtigt Menasse. «Es geht zunächst nur um die Einsicht, dass sie in einer globalisierten Welt und in einer sich entwickelnden Europäischen Union an Bedeutung verlieren und irgendwann absterben werden.» Mit Blick auf die Brüsseler Institutionen verlangt der Autor, dass die europäische Demokratie gestärkt und Renationalisierungstendenzen zurückgedrängt werden. Etwa indem das Kommissionspräsidium allein durch das Europäische Parlament besetzt wird, der Ministerrat in seine Schranken verwiesen wird und die Absurdität beseitigt wird, dass das supranationale Parlament aufgrund nationaler Listen gewählt und Mitglieder der EU-Kommission durch die Mitgliedstaaten nominiert werden (was beides der Verteidigung nationaler Souveränität Vorschub leistet).

Wenn etwas fehlt in Menasses Essay, dann ist es die explizite Auseinandersetzung mit dem Konzept des mehrschichtigen Staatsaufbaus. Gut schweizerisch: mit dem Föderalismus als Grundprinzip des europäischen Projekts. Diese DNA der europäischen Integration bewusst zu machen, tut Not. So liesse sich klären, was es mit der oft beschworenen und noch öfter vernachlässigten Subsidiarität auf sich hat, und es würde die von unserem Essayisten offengelassene Frage beantworten, wie man Republiken und Monarchien unter einen Hut kriegt.

Wer die «Die Welt von morgen» als wissenschaftliche Abhandlung liest, hat sich im Genre vertan. Allein anhand der literarischen Anklänge im Titel – von Stefan Zweigs «Welt von gestern» zu Poppers «Offenen Gesellschaft und ihren Feinden» - hätte man’s schon merken können. Hat jemand den Essay «Suada» gescholten? Sei’s, dem Romancier wäre es zuzubilligen. Mehr zu denken gibt, dass der Rezensent einer auf ihr internationales Renommee bedachten Deutschschweizer Zeitung Menasse als «letzten Europäer» apostrophiert und seinen Text abtut als «europapolitische Pflichtübung, die man nickend zur Seite legt». Süffisanz dem Autor gegenüber – oder vor allem seinem Stoff?

Menasse als naiven EU-Enthusiasten zu charakterisieren, wird dem Autor jedenfalls nicht gerecht. «Man möchte zum EU-Gegner werden», bekennt dieser, «wenn man sich mit dem Zustand der EU und ihren unproduktiven Widersprüchen beschäftigt, aber ich bestehe darauf: die Idee zu verteidigen, die Abwege zu kritisieren und endlich zu diskutieren, kühn denkend, worum es der Idee nach geht, ein souveränes, demokratisches, nachnationales Europa.» Eine erhellende Lektüre – gerade auch für Schweizerinnen und Schweizer!

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Robert Menasse, Die Welt von morgen, Ein souveränes demokratisches Europa – und seine Feinde, Suhrkamp-Verlag, Berlin 2024, 192 Seiten, CHF 36.-.