Wochenrückblick

Schweiz im Sicherheitsrat KW 16/2024

von Johann Aeschlimann | April 2024
Palästina: Eine deutliche Mehrheit des Rats – ohne die Schweiz – hat die UNO-Vollmitgliedschaft Palästinas angenommen, aber weil die USA ihr Veto einlegten, ist der Antrag abgelehnt. 12 Staaten stimmten dafür. Grossbritannien und die Schweiz enthielten sich. Der “Staat Palästina” (offizielle Bezeichnung – State of Palestine) hat seit 2012 Beobachterstatus. Auch die nicht zustimmenden Ratsmitglieder beteuerten, für die Vollmitgliedschaft zu sein – aber nicht gerade à l’ heure actuelle, wie die Schweiz in ihrer  Erklärung nach der Abstimmung sagte. Der Schritt müsse sich “in die Logik eines sich anbahnenden Friedens fügen (s’ insérer dans la logique d’une paix emérgente). Wir wollten wissen, auf welcher Regierungsebene der Entscheid über das Schweizer Abstimmungsverhalten gefallen ist. Es war der gesamte Bundesrat, wie das EDA schriftlich mitteilte. "Da der Entscheid von besonderer politischer Tragweite ist", seien dabei auch die Präsidenten der Aussenpolitischen Kommissionen konsultiert worden, wie es das Parlamentsgesetz vorsieht. Es ist die erste UNO-Entscheidung zum Nahen Osten, die vor den Gesamtbundesrat gebracht wurde. Zuvor hatte Aussenminister Cassis bei heiklen Abstimmungen, so über einen Gaza-Waffenstillstand in der Generalversammlung und im Sicherheitsrat, das letzte Wort. Israel erklärte in der Sitzung, die zustimmende Ratsmehrheit sei dafür, «den palästinensischen Terror mit einem palästinensischen Staat zu belohnen». Kein palästinensischer Führer habe den Angriff vom 7. Oktober auf israelische Zivilisten verurteilt, und keiner anerkenne "das Existenzrecht Israels als jüdischer Staat. Der palästinensische Vertreter richtete eine Frage an die nicht zustimmenden Staaten, also auch an die Schweiz: «Wie verletzt die Aufnahme Palästinas in die UNO, auf gleicher Höhe wie der Rest der Länder der Welt, die Aussicht auf Frieden zwischen Palästinensern und Israelis? Und wie verletzt diese Mitgliedschaft Frieden und Sicherheit in der Welt?»

Israel-Gaza-Iran: Der iranische Raketenangriff auf Israel, begründet mit dem Bombardement der iranischen Vertretung in Damaskus und mittlerweile gefolgt von einem israelischen Gegenschlag, hat die Beratungen der Woche dominiert und war mehrfach Thema. Bereits am Samstag der Vorwoche war der Rat zu einer Dringlichkeitssitzung zusammengetreten. Die meisten Mitglieder – darunter die Schweiz – warnten eindringlich vor der Spirale von Reaktion und Gegenreaktion und deren Ausweitung auf die gesamte Region. Brennpunkte sind Gaza, die Westbank, Südlibanon, Syrien und die Schifffahrt im Roten Meer.  Die Warnungen wurden in der vierteljährlichen Nahost-Debatte fortgesetzt, an der sich rund 60 Staaten beteiligten. In den Wortmeldungen waren auf keiner Seite Anzeichen von der Schweiz angesprochenen  «sich anbahnenden Friedens» zu erkennen. Algerien bezichtigte Israel des «Genozids».  Israel nannte die Palästinensische Autonomiebehörde ein «den Genozid liebendes Gebilde» und griff die UNO als Ganzes an, weil sie Iran Gelegenheit bot, vor dem Rat aufzutreten anstatt das Land als Terror-Staat zu ächten.   Die Schweiz rezitierte ihren Katalog von Empfehlungen: Einhaltung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte auf allen Seiten, Erfüllung der UNO-Resolutionen, humanitärer Waffenstillstand, Zugang von Hilfslieferungen an die Verhungernden in Gaza, Freilassung der Geiseln, Ende der israelischen Siedler-Repression im besetzten Westjordangebiet.

UNRWA: Auf Ersuchen Jordaniens hat der Rat sich mit der UNO-Hilfsorganisation für Palästinenserflüchtlinge (UN Relief and Works Agency for Palestine Refugees). Sie ist in Schwierigkeiten, weil mehrere westliche Staaten ihre Zahlungen gestoppt haben und Israel ihr den Zugang zum Norden des Gazastreifens verweigert. Gleichzeit ist UNRWA laut UNO-Angaben die einzige Organisation, die logistisch imstande ist, die eingekesselte Gaza-Bevölkerung zu versorgen. UNRWA-Chef Lazzarini, ein Schweizer, erklärte dem Rat, Israel führe eine Kampagne, um die Organisation aus Gaza zu vertreiben. Israel bezeichnete UNRWA, mit Hamas gemeinsames Spiel zu machen: «UNRWA ist Hamas und Hamas ist UNRWA». Laut israelischen Angaben sollen UNRWA-Mitarbeiter an den Angriffen auf israelische Zivilisten vom 7. Oktober beteiligt gewesen sein. Die Anschuldigungen werden von der UNO  untersucht. Mehrere Staaten, so Japan und Korea, erklärten angesichts der verheerenden Lage in Gaza, dass sie ihren Zahlungsstopp rückgängig und ihre Zahlungen an UNRWA erhöht hätten. Die Schweiz äusserte sich unverbindlich: UNRWA sei für die humanitäre Arbeit unabdingbar. Und man warte auf die Abklärung der israelischen Anschuldigungen. Bern hat bis dahin seine Zahlungen ausgesetzt.

Jemen: Der Gaza-Krieg und die mit ihm gerechtfertigten Angriffe der Huthi-Rebellen auf die Schifffahrt im Roten Meer bringen den  vor zwei Jahren zustande gekommenen Friedensprozess im Land ins Taumeln. Solange diese beiden Faktoren nicht ausgeschaltet seien, drohe «weitere Eskalation», sagte der UNO-Sondergesandte dem Rat.  Die Suche nach einer politischen Lösung sei steckengeblieben, an mehreren Fronten werde verstärkt gekämpft, die wirtschaftliche Lage (17 Millionen auf Hilfslieferungen angewiesen) verschlechtere sich, und zu alledem sei die Cholera ausgebrochen. Die Schweiz machte auf die ökologische Dimension aufmerksam. Eine schweizerisch finanzierte Studie ergab, dass über die Hälfte der Vertriebenen im Land ihre Wohnstätten wegen Naturkatastrophen verlassen mussten. Nach der Sitzung traten die Schweiz und zehn weitere Ratsmitglieder mit einer gemeinsamen Erklärung auf, die auf den deutlichen Zusammenhang zwischen Klimawandel und Konflikt im Jemen aufmerksam macht.

Ukraine: Anfang  Monat ist das Atomkraftwerk Saporischia im russisch-ukrainischen Kampfgebiet erstmals seit über einem Jahr militärisch angegriffen worden. Aus diesem Anlass trat der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA vor den Rat, um zu warnen, das Risiko eines Unfalls in der  Anlage sei «gefährlich nahe». Im vergangenen Mai hatte er «Prinzipien» zum Schutz des Werks aufgestellt, an die sich beide Seiten stillschweigend hielten. Sie betrafen  insbesondere den Verzicht auf Sabotage oder Angriffe, wie sie jetzt unternommen wurden. Das Werk steht mittlerweile unter russischer Kontrolle, die sechs Reaktoren sind abgeschaltet. Wer für die jetzige Attacke verantwortlich ist, wurde im Rat nur von den beiden Kontrahenten thematisiert (sie beschuldigen sich gegenseitig). Die Schweiz ermahnte beide Seiten, sich an die IAEA-Leitlinien zu halten. Sie forderte vollen Zugang von IAEA-Experten zur Anlage sowie deren Rückgabe an die Ukraine.

Libyen: Der UNO-Sondergesandte hat den zerstrittenen politischen Widersachern «störrischen Widerstand, unvernünftige Erwartungen und Gleichgültigkeit gegenüber den Interessen des libyschen Volks» vorgeworfen, weil sie die Vorbereitungen der für dieses Jahr geplanten Wahlen blockieren und die Vermittlungsbemühungen sabotieren. Nach der Sitzung erklärte er seinen Rücktritt vom undankbaren Amt. Die Debatte wurde durch Aufrufe zum Kompromiss geprägt.  Die Schweiz legte ihren Akzent auf die zunehmende Repression gegen Menschenrechts-Verteidiger, Journalisten und Akademiker. Sie müsse aufhören, wenn der politische Prozess Erfolg haben solle. «Initiativen mit dem Zweck der Versöhnung» würden von der Schweiz aktiv unterstützt.

Westsahara: Hinter geschlossenen Türen hat der Rat sich mit der UNO-Mission für ein Referendum in Westsahara MINURSO (Misión de las Naciones Unidas para la Organización de un Referéndum en el Sáhara Occidental) befasst. Sie ist seit 1991 damit befasst, ein Referendum über die Zukunft der ehemals spanischen Kolonie zustandezubringen. Marokko, das das Gebiet verwaltet, und Algerien, das eine Widerstandsbewegung am Leben hält, streiten sich darüber.

Sudan: Hilflosigkeit prägte die Sitzung zur Lage im Sudan, wo der seit einem Jahr dauernde Krieg zwischen zwei rivalisierenden Generälen über 8 Millionen Menschen zur Flucht und 25 Millionen, die Hälfte der Bevölkerung, in die Abhängigkeit von Nothilfe getrieben hat. Die UNO-Vertreterin sprach von einer “vollständig von Menschen verursachten Krise von epischen Proportionen”. Der Krieg greife auf immer weitere Gebiete über. Er werde durch Unterstützung aus dem Ausland angefacht. Die Schweiz sagte il est grand temps de mettre fin à cette guerre und gab bekannt, dass sie ihre Sudan-Hilfe um 21 Millionen Dollar aufgestockt habe.

OSZE: An der alljährlichen Sitzung mit der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) war weniger von ihrer Impotenz gegenüber dem russischen Angriff auf die Ukraine die Rede als von der Entschlossenheit, trotz allem weiterzumachen. Der OSZE-Präsident räumte ein, dass der Ukrainekrieg Kräfte bindet, berichtete indessen auch über die weiteren Aktionsfelder der Organisation: Bergkarabach, Abchasien, Südossetien, Transnistrien, Westbalkan, sowie Initiativen zur Verbesserung der digitalen Bildung und des Medienverständnisses. Die Schweiz erinnerte an die Geburt der OSZE aus der Helsinki-Schlussakte, welche Sicherheit und Kooperation in den Zusammenhang zu den Menschenrechten, der Ökologie und der Ökonomie setze. Damit sei die Grundlage für eine europäische «Sicherheitsarchitektur» geschaffen worden, die mit dem Angriff auf die Ukraine zerbrochen sei. Die Helsinki-Schlussakte müsse die Richtschnur bleiben. Die Schweiz unterstütze die OSZE «voll und ganz». Als Beispiel führte sie die gemeinsam mit der OSZE veranstalteten Geneva International Discussions an.

Jugend: Malta hat als Ratspräsident eine Debatte über die Jugend im Mittelmeerraum organisiert (offizieller Titel (the role of young persons in addressing security challenges in the Mediterranean). Die UNO-Vertreterin erklärte, die grösste Bedrohung sei der Klimawandel. Das Mittelmeer erwärme sich 20 Prozent stärker als der globale Schnitt, und in Nordafrika werde bis 2050 mit 19 Millionen Klima-Flüchtlingen gerechnet. Die meisten Ratsmitglieder benützten die Debatte, um eigene Projekte zum Thema vorzustellen. Die Schweiz warb für ihr «Youth for Change»-Projekt in Bosnien-Herzegowina.
Wochenrückblick

Schweiz im Sicherheitsrat / KW 28-2024

von jaeschlimann | July 2024
Themen der Woche: Jemen, Ukraine, Kongo, Kolumbien, Westafrika/Sahel, Haiti, Zypern, Afghanistan, Prävention
Wochenrückblick

Schweiz im Sicherheitsrat / KW 27-2024

von jaeschlimann | July 2024
Themen der Woche: Gaza, Haiti, Myanmar